Adaptive Workplace Learning als Antwort auf Covid-19

04.01.2022
Vaska Zaykova, Rudolf Grötz

Titelbild (Die wichtigsten Elemente sind: Learning Topics, Learning Elements, Learning Journeys und Learning Paths.)

Charles Darwins Evolutionstheorie besagt, dass weder Stärke noch Intelligenz das Überleben sicherstellen. Vielmehr überleben alle jene, die besonders anpassungsfähig sind. Im Kontext des Lernens, bedeutet das: Je schneller wir uns neues Wissen aneignen, desto eher überleben wir. Das impliziert Lernen bei Bedarf. Nicht lernen auf Vorrat und nicht für zukünftiges Handeln.

Mit anderen Worten, der digitale Darwinismus erfordert lebenslanges Lernen und ständige Anpassung. Die wichtigste Kompetenz im heutigen Geschäftsleben ist die Fähigkeit, den eigenen Lernprozess selbst anzupassen und zu organisieren. Diese Art der Lernorganisation unterscheidet sich deutlich von traditionellen Lernprozessen zum Erwerb von Qualifikationen, die darauf ausgerichtet sind, sich Wissen für die Zukunft anzueignen. Ziel des Lernens muss es sein, Probleme im Arbeitsprozess selbstorganisiert und kreativ zu lösen. Somit dient heutiges Lernen der Arbeitsunterstützung und in erster Linie der Problemlösung bei der täglichen Arbeit.

Dieser Artikel ist ein Erfahrungsbericht aus der Praxis. Er zeigt zwei Aspekte, wie Unternehmen sich in Zukunft auf Krisen präventiv vorbereiten und in der Krise besser bestehen können. Auf der einen Seite ist ständiges Lernen nicht nur ein fundamentaler Wert eines Unternehmens, sondern wird künftig lebensentscheidend für nachhaltige Geschäftsmodelle sein. Auf der anderen Seite zeigen wir in diesem Bericht mit der RBI Workplace-Academy einen praktischen Ansatz, wie ein neuer Bereich (hier die GO-IT! Academy bei der Raiffeisen Bank International, RBI) innerhalb einer Krise, so angelegt werden kann, dass sie ihre Funktionen weiter erfüllt und gleichzeitig flexibel genug bleibt, um sich an krisenbedingte Änderungen anpassen zu können. Wir sehen den Ansatz des Lernkonzeptes als Antwort auf die Covid-19 Pandemie.

GO-IT! ACADEMY ALS ANTWORT

Die Raiffeisen Bank International ist ein in Österreich ansässiges Bankunternehmen. Es ist in Zentral- und Osteuropa tätig. Die RBI durchläuft seit drei Jahren eine agile Transformation. Um die agile Transformation besser zu unterstützen, wurde 2018 die GO-IT! Academy gegründet, um neue Fähigkeiten zu erlernen, die in einem agilen Setup notwendig sind, und unterschiedliche Trainingseinheiten aufgebaut.

Das Trainingsprogramm bestand zunächst aus festen Inhalten, die von externen Trainern als Class-Room-Trainings organisiert wurden und einen festen Zeitplan und ausgewählte Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten. Diese wurden von den Delivery-Leads (Abteilungsleitern) nominiert. Aufgrund der hohen Nebenkosten (zum Beispiel für Flüge und Hotels) und Opportunitätskosten durch beispielsweise Absagen von angemeldeten Personen, waren nicht mehr als zwei Durchläufe eines Programms pro Jahr möglich.

UND DANN KAM COVID-19

Anfang 2020 starteten wir vier neue Programme zu den Themen DevOps, Cloud, Agile Engineering und Testautomation. Fünf Drei-Tages- Module, versetzt durchgeführt von März bis September. Alle Programme waren Ende Februar inhaltlich fertig. Die Trainer waren bestätigt, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren nominiert und bestätigt, die Flüge und Hotels für die ersten Module gebucht. Und dann kam die Pandemie und stellte die gesamte GO-IT! Academy auf den Kopf.

CHALLENGE #1 – REMOTE OR NOT REMOTE

Von einem auf den anderen Tag war alles anders. Wir mussten entscheiden, ob wir alle Programme abbrechen oder diese remote  anbieten wollten. Die Entscheidung für remote war nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance. Durch den Wegfall der Neben- und Opportunitätskosten sowie der Absenzzeiten stieg die Nachfrage nach den Trainings und vervierfachte sich. Bei der Organisation und Durchführung mehrerer Runden mit unterschiedlichen Gruppen mussten  wir  feststellen,  dass der Ansatz von festen Inhalten und Schulungsplänen keine Flexibilität beim Lernen und keine Skalierung zuließ. Dazu kam, dass die Lernevolution berücksichtigt werden musste.

CHALLENGE #2 – EVOLUTION IM LERNEN

Die Lernevolution zeichnet sich vor allem da durchaus, dass nun das Leistungsproblem in den Vordergrund rückt. Das Leistungsproblem bedeutet, dass ein Mitarbeiter die Leistung aus dem aktuellen Berufsalltag nicht erfüllen kann, weil das Wissen fehlt. (Es hat nichts mit den klassischen jährlichen Leistungsbesprechungen zu tun.) Beispiel für ein Leistungsproblem: Diana soll Tests in Java für Web-UI automatisieren, ihr fehlt aber das notwendige Wissen. Früher hätte Diana 3 Monate gewartet bis der nächste Kurs besucht werden kann. Die Lösung sollte sein: Diana geht zum Company-Lernportal, sucht sich die passende Learning-Journey und startet den Wissensaufbau in Learning-by-Doing. Wir sprechen hier davon, das Gelernte sofort anzuwenden. Heute ist es wichtig, alle im Unternehmen dazu zu befähigen, ihren „Job gut oder besser“ zu machen. Ganz im Sinne der Evolutionstheorie begannen wir nach neuen Lernmethoden zu suchen. Wir entschieden uns für einen Blended- Learning-Ansatz mit einer Kombination verschiedener Lernformate, was mehr Flexibilität und individuelles Lernen ermöglicht.  Gepaart mit unserem seit zwei Jahren im Betrieb befindlichen Agile-Learning-Guide Approach entstand so die RBI Workplace-Academy.

RBI Workplace-Academy – Lernen on the job

Ziel der Workplace-Academy ist es nicht, Zertifizierungen zu erwerben oder Wissen auf Vorrat anzuhäufen. Ziel der Workplace-Academy ist es, praktische Herausforderungen aus dem Berufsalltag im besten Fall spontan zu meistern und Lernen und Arbeiten zu verbinden.

LEARNING ARCHITECTURE

Um  unseren  Blended-Learning-/Workplace-Learning-Ansatz umzusetzen, schufen wir eine neue Lernarchitektur.

LEARNING TOPIC

Unsere Learning Topics unterteilen eine Academy in verschiedene Themenbereiche, die miteinander verzahnt sind. Für die Test Automation-Academy  sind  das  z.  B:  Test  Engineering/ Test Automation Foundation/Test Automation Adaptors/Test Automation Development.

LEARNING ELEMENT

Ein Learning Element enthält eine Lernsequenz mit einem thematischen Zusammenhang. Das kann ein Training auf einer Lernplattform, wie Udemy oder der Applitools Testautomation University, ein Youtube-Video, ein Blog, ein Buch ein Podcast uvm. sein.

LEARNING JOURNEY

Der Ansatz der Learning Journey geht  davon aus, dass Lernen kein einmaliges Event ist. Vielmehr ist es ein Prozess mit einem Anfang und einem Ende.  Lernende eignen sich in  diesem Prozess notwendige Kompetenzen an, um damit Lösungen innerhalb ihrer Arbeitswelt zu finden. Dabei werden verschiedene Stationen, nämlich die Lernelemente durchlaufen, und in den Arbeitsalltag integriert. Das Durchlaufen findet selbstgesteuert unabhängig von Zeit und Ort statt. Eine Lernreise hat ein Lernergebnis, eine Kompetenz, die am Ende erreicht werden soll. Die klassischen Präsenzschulungen kommen nicht mehr zur Anwendung. Die Aneignung von Kompetenzen ist nicht mehr als endgültig anzusehen. Sie ist nur einer von vielen Zwischenstopps im lebenslangen Lernen.

LEARNING PATH

Je nach Vorwissen von Lernenden kann eine Learning Journey unterschiedliche Start- und Endpunkte und am Weg zum Ziel unterschiedliche Lernelemente aufweisen. Um dieser Diversität Rechnung zu tragen, gibt es den Learning Path. Der Learning Path ist eine individualisierte Learning Journey, die auf die Lernenden zurechtgeschnitten ist.

DIE RBI WORKPLACE ACADEMY & AGILE LEARNING GUIDES

 An einem Praxisbeispiel geben wir nun Einblicke wie die Agile Workplace Academy mit den RBI Agile Learning Guides zusammenspielt. Die Aufgaben eines Agile Learning Guides, haben wir 1:1 umgesetzt wie Gehlen-Baum, Illi (1 Gehlen-Baum, Vera; Illi, Manuel. Lern doch, was Du willst! (German Edition)  beschreiben:

“Der Lerncoach unterstützt die Lernenden umfassend und individuell in ihren Lernprozessen. Darüber hinaus hilft und berät er Organisationen allgemein bei der Umsetzung des neuen Lernansatzes und ist Botschafter für ein vertieftes Verständnis agilen Lernens.

Der Lerncoach …

  • … hilft den Lernenden in der Planungsphase eines Sprints, passende und realistische Ziele zu wählen, zu priorisieren und zeitlich zu
  • … gibt bei der Setzung von Lernzielen Hilfestellung für eine klare, präzise und realistische Formulierung der Ziele.
  • … sorgt für die Bereitstellung von Inhalten, die zu den definierten Lernzielen aber auch zu dem individuellen Lernverhalten und den Bedürfnissen des Lernenden passen; bedeutet dies spezielle Lernformate wie z. B. Hospitationen zu organisieren.”

Im ersten Schritt des Planungsgesprächs bespricht der Learning Guide die Leistungsprobleme und die Herausforderungen mit den Lernenden, das Lernbudget in Stunden und andere Details, die den Rahmen für den Learning Sprint vorgeben.

Im zweiten Schritt selektiert der Guide gemeinsam mit den Lernenden die Learning Elements aus der Learning Journey und definiert so den Learning Path.

TRANSFERAUFGABEN

Ist der Learning Path definiert, geht es darum Transferaufgaben zu vereinbaren. Transferaufgaben sind ein wichtiges Konzept und der Schlüssel zum agilen Lernen.

„Es ist nicht genug, zu wissen – man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen – man muss auch tun.“ J.W. von Goethe

Dazu werden geeignete Aufgaben aus dem Projekt/Berufsalltag definiert, in denen die neu erlernten Kompetenzen sofort umgesetzt werden. Transferaufgaben stellen sicher, dass Lernende neue Fähigkeiten direkt im Alltag anwenden und die Weiterbildung einen Wert für das Team hat. Mit diesem Ansatz ist gewährleistet, dass sich die Lernergebnisse unmittelbar auf die tägliche Arbeit auswirken. Die Ergebnisse der Transferaufgaben werden in einem Learning Sprint Review dem Team und dem Guide präsentiert.

SELBSTGESTEUERTE LERNPHASE

Nach dem Planungsgespräch beginnt die selbstgesteuerte Lernphase (der Learning Sprint), in der es darum geht, die Transferaufgaben nach der Bearbeitung der Lernelemente umzusetzen. Während des Sprints handeln Lernende alleine, was nicht bedeutet, dass sie alleine sind. Sie arbeiten an den Lernelementen des Lerncoaches oder der Experten, tauschen sich mit Kollegen aus und nehmen eventuell an Lerngemeinschaften teil. In jedem Fall ist der Lerncoach und Lernexperte in dieser Zeit leicht erreichbar und steht mit Rat und Tat zur Seite.

LESSONS LEARNED AGILE LEARNING/AGILE WORKPLACE ACADEMY:

KEIN „ONE SIZE FITS ALL“

Beim agilen Lernen geht es darum, Lernenden möglichst viel Freiheit und Autonomie für den Lernprozess zu geben. Nicht jeder Lernansatz funktioniert für alle gleich. Das Anbieten verschiedener Lernangebote ist der Schlüssel zum Erfolg.

SELBSTORGANISIERTES LERNEN

Agiles Lernen kombiniert Selbstorganisation und selbstgesteuertes Lernen. Diese erfordern besondere metakognitive Fähigkeiten und Kompetenzen, da hier Lernende Aufgaben übernehmen müssen, die in der alten Lernform von Lehrkräften, Seminarleitern, Professoren oder Dozentinnen übernommen wurden. Wir haben gesehen, dass eine der größten Herausforderungen darin besteht, dass die Mehrheit der Lernenden ihren Lernprozess nicht selbst organisieren kann.

DEDIZIERTE LERNZEIT

Egal, wie sehr die Entwicklung von Fähigkeiten begrüßt oder belohnt wird, wenn Teammitglieder das Gefühl haben, keine Zeit zu haben, neue Fähigkeiten zu entwickeln, werden sie es nicht tun. Deshalb ist es extrem wichtig Lernende zu ermutigen, Zeitblöcke zu definieren, innerhalb derer sie sich ausschließlich auf die Entwicklung neuer Fähigkeiten zu konzentrieren.

FAZIT

Immer mehr Unternehmen ersetzen klassisches Training durch Workplace-Learning, besser bekannt unter Training on the Job. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Lernen am Arbeitsplatz bietet mehr Möglichkeiten auf die Nachfrage nach neuem Wissen zu reagieren. Diese Art von Lernen unterscheidet sich maßgeblich vom Lernen, um Wissen für die Zukunft anzuhäufen. Ziel des Lernens muss es sein, Probleme im Arbeitsprozess selbstorganisiert und kreativ zu lösen. Somit dient heutiges Lernen mehr der Arbeitsunterstützung, um in erster Linie der Problemlösung bei der täglichen Arbeit gerecht zu werden.

Die Raiffeisen Bank International hat mit der Einführung der Agile Workplace Academy und den Agile Learning Guides eine Kombination geschaffen, das Unternehmen fit für die Zukunft zu machen. Für eine Zukunft, in der es darum geht, sich Wissen schneller anzueignen als andere. Denn nur so kann dem digitalen Darwinismus die Stirn geboten werden.

Ausgelöst durch die Krise der Pandemie haben wir gleichzeitig geübt, welche Schritte nötig sind, um vorgefertigte Programme, schnell und zielgenau auf neue Voraussetzungen umzustellen. Dieses sind Erfahrungen, auf die wir in Zukunft sehr wahrscheinlich zurückgreifen werden müssen.

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